17.07.2025 - von Plan International

«Wenn sie sich nicht selbst schützt, tut es niemand anderes»: Wie Geschlechternormen die Sicherheit und Freiheit junger Frauen gefährden

Mehr als die Hälfte der Mädchen im Teenageralter glauben, dass Gewalt von Männern etwas Natürliches ist und es in ihrer Verantwortung liegt, sich selbst zu schützen. Das geht aus einer neuen Studie der Mädchenrechtsorganisation Plan International hervor.

Die Ergebnisse stammen aus einem einzigartigen Forschungsprojekt, bei dem 142 Mädchen in neun Ländern – Benin, Brasilien, Kambodscha, Dominikanische Republik, El Salvador, Philippinen, Togo, Uganda und Vietnam – von ihrer Geburt bis zu ihrem 18. Lebensjahr begleitet und jährlich zusammen mit ihren Familien zu ihrer Einstellung zu Gewalt und Geschlechterrollen befragt wurden.

Das Ergebnis ist ein Bild von Mädchen, die in einer Welt aufwachsen, die ihnen die Schuld für die Aggression und Gewalt gibt, denen sie ausgesetzt sind, ihre Freiheiten einschränkt und ihnen beibringt, eine Last zu tragen, die eigentlich Aufgabe der Gesellschaft wäre. Der Bericht «We Shouldn’t Have to Walk with Fear» (Wir sollten nicht in Angst leben müssen) zeigt, wie tief verwurzelte Geschlechternormen die Wahrnehmung von Gewalt durch Mädchen prägen, sie einem höheren Risiko von Missbrauch aussetzen und ihre Freiheit einschränken.

Bis zum Erreichen der Pubertät empfinden viele Mädchen männliche Gewalt als «normal» oder «einfach so, wie es ist». Bei einer Befragung im Alter von 14 bis 15 Jahren gaben 68 % der Mädchen an, dass männliche Aggression ein unvermeidbarer Teil des Lebens sei. Besorgniserregend ist, dass die Überzeugung, dass Mädchen für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sind, zunimmt je älter sie werden. Während 57 % der 14- bis 15-jährigen Mädchen angaben, dass es ihre Aufgabe sei, sich vor Missbrauch zu schützen, stieg dieser Anteil bei den 17- bis 18-Jährigen auf 67 %. Gewalt gegen Mädchen ist weit verbreitet und hat weitreichende Folgen – laut den Vereinten Nationen haben weltweit mehr als eine Milliarde Mädchen und Frauen körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt erlebt. Innerhalb der Studiengruppe gaben alarmierende 91 % der Mädchen an, Gewalt erlebt zu haben, einige davon bereits im Alter von 11 Jahren. Im Alter von 15 Jahren sagte die Studienteilnehmerin Katerin*: «Natürlich muss ich mich selbst schützen, denn wenn ich mich nicht selbst schütze, wird es niemand anderes tun.»

«Die Pubertät ist eine Zeit, in der Mädchen sich Gedanken über Freunde, die Schule und ihre Zukunft machen sollten – und nicht darüber, wie sie sich auf der Strasse verhalten müssen, um vor Übergriffen sicher zu sein», sagte Reena Ghelani, CEO von Plan International

«Aber für zu viele Mädchen auf der ganzen Welt ist dies die tägliche Realität. Sie wachsen damit auf, darauf zu achten, wie sie gehen, sprechen oder sich kleiden, weil sie wissen, dass sie, wenn sie belästigt, gemobbt oder angegriffen werden, Gefahr laufen, dass man ihnen die Schuld gibt – dass sie «selbst schuld sind». Diese Gewalt ist weder unvermeidbar noch akzeptabel. Diese Studie bestätigt, dass die Pubertät eine entscheidende Zeit für Massnahmen ist.»

Kreislauf der Gewalt durchbrechen

Frühere Studien haben gezeigt, dass Mädchen und Frauen, die Vorstellungen akzeptieren, die die männliche Dominanz und die Ungleichheit der Geschlechter verstärken – wie beispielsweise die Überzeugung, dass «ein Mann das Oberhaupt der Familie sein sollte» oder dass «ein Mann seine Frau schlagen darf» –, später im Leben häufiger häusliche Gewalt erleben. Verinnerlichte Geschlechternormen schränken auch die Freiheit von Mädchen ein und führen dazu, dass sie sich einschränken, wohin sie gehen, wie sie sich kleiden und mit wem sie Zeit verbringen.

Die Studie beleuchtet auch, wie Mädchen und Familien oft den Opfern die Schuld geben, wenn es zu Missbrauch kommt, insbesondere wenn ein Mädchen sich anders verhält oder kleidet als es den traditionellen Erwartungen entspricht. Diese Stigmatisierung bringt Mädchen zum Schweigen, hält sie davon ab, Missbrauch zu melden, und ermöglicht so, dass dieser ungehindert weitergeht. «Sie sagen, dass man die Jungen provoziert, wenn man sehr kurze Kleidung trägt», erklärt Saidy*, 15, aus der Dominikanischen Republik.

Die Pubertät ist ein entscheidender Moment, um diese Vorstellungen zu hinterfragen und den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Der Bericht ergab ausserdem, dass Mädchen glauben, dass Verhalten beeinflusst oder gelernt werden kann. Mit Eintritt ins Erwachsenenalter waren 89 % der jungen Frauen fest davon überzeugt, dass Eltern Jungen beibringen können, nicht gewalttätig oder aggressiv zu sein.

«[Jungen] kann man beibringen, nicht mehr aggressiv zu sein; es ist die Pflicht der Eltern, ihre Söhne zu erziehen und sie auf den richtigen Weg zu bringen», sagte Catherine*, 17, aus Benin. Im Alter von 17 bis 18 Jahren stellen Mädchen diese schädlichen Vorstellungen in Frage und fordern ihr Recht auf gleiche Freiheiten – zu Hause, in der Schule und auf der Strasse. Ly*, eine junge Frau aus Vietnam, erklärte: «[Freiheit] ist für Mädchen und Jungen da. Jeder hat dieses Recht.»

Plan International ruft Führungskräfte, Geldgeber und die Zivilgesellschaft dazu auf, dringend in Programme zu investieren, die schädliche Geschlechternormen in Frage stellen, geschlechtsspezifische Gewalt verhindern und die Stärkung von Mädchen im Jugendalter in den Vordergrund stellen

«Um eine Welt zu schaffen, in der Mädchen ohne Angst leben können, müssen wir frühzeitig ansetzen und gemeinsam mit Familien, Schulen und Gemeinden Vorstellungen hinterfragen, die Gewalt rechtfertigen und die Freiheiten von Mädchen einschränken», so Ghelani weiter. 

«Wir müssen Jungen und Männer dazu erziehen, Mädchen zu respektieren und gesunde, gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen. Wir müssen in Dienste investieren, die Mädchen und Überlebende schützen und unterstützen, und dafür sorgen, dass Hilfe sicher, zugänglich und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Indem wir Geschlechternormen in diesem entscheidenden Alter hinterfragen, können wir diese schädlichen Kreisläufe durchbrechen.»

*Die Namen der Forschungsteilnehmerinnen wurden geändert.

 

Für weitere Informationen oder zur Organisation von Medieninterviews wenden Sie sich bitte an:

Mélina Froidure, Global Media Officer, Plan International, Melina.Froidure@planinternational.be
Sanna You, Verantwortliche Kommunikation, Plan International Schweiz, sanna.you@plan.ch 


HINWEISE FÜR REDAKTIONEN

Die Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung und die Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt sind für die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung von entscheidender Bedeutung – insbesondere für Ziel 5, das die Geschlechtergleichstellung und die Stärkung aller Frauen und Mädchen zum Ziel hat.

Über die Studie 

Diese Studie stützt sich auf Erkenntnisse aus der qualitativen Längsschnittstudie «Real Choices, Real Lives» von Plan International, um die Überzeugungen und Einstellungen jugendlicher Mädchen zu Gewalt und Schutz zu verstehen und die Auswirkungen verinnerlichter sozialer Normen auf ihr Leben zu untersuchen.

«Real Choices, Real Lives» begleitet 142 Mädchen in neun Ländern von ihrer Geburt im Jahr 2006 bis zu ihrem 18. Lebensjahr im Jahr 2024. Durch die jährliche Datenerhebung bei den Mädchen und ihren Bezugspersonen bietet die Studie einzigartige Einblicke in ihre Lebenserfahrungen während ihrer Kindheit und Jugend.

Die Studie hat sich zum Ziel gesetzt, die Ursachen der Geschlechterungleichheit aufzudecken, indem sie Fragen zu Überzeugungen, Werten und Erwartungen untersucht. Dabei zeigt sie auf, wie geschlechtsspezifische soziale Normen und Verhaltensweisen im Laufe der Zeit entstehen, aufrechterhalten oder verändert werden. Ihr Ansatz bietet einen seltenen Einblick in den Alltag der Mädchen, erfasst ihre Wünsche und Perspektiven in ihren eigenen Worten und stellt sicher, dass ihre Stimmen gehört und ihre Forderungen nach Veränderung und Geschlechtergleichstellung verstärkt werden.

Die Studie stützt sich auf Interviews, die zwischen 2017 und 2024 durchgeführt wurden, als die Mädchen zwischen 11 und 18 Jahre alt waren, und untersucht Themen und Motive im Zusammenhang mit den Erfahrungen und Einstellungen von Mädchen und ihren Bezugspersonen zu Gewalt, Schutz und der Freiheit von Mädchen.

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