15.05.2025 - von Plan International

Eine Stadt voller Geister - Fatimas Fototagebuch

Fatima Hassouna war eine talentierte palästinensische Fotografin und Jugendvertreterin von Plan International, die 18 Monate lang den weltbewegenden Konflikt miterlebte, der den Gazastreifen zerstörte. Am 16. April 2025 wurde die Vierundzwanzigjährige bei einem israelischen Luftangriff getötet, ebenso wie zehn Mitglieder ihrer Familie.

In den letzten anderthalb Jahren erzählte Fatima die Geschichte der Palästinenser:innen - sie wollte, dass die Welt erfährt, was sie im Gazastreifen durchmachen, und war entschlossen, dass die Menschen zuhören, mitfühlen und etwas dagegen unternehmen. Ihre Arbeit wurde in den Medien auf der ganzen Welt veröffentlicht und Fatima nutzte ihr Talent, um sich für ein Ende des Konflikts einzusetzen.

Im Januar feierte sie den Waffenstillstand und erlaubte sich, von einer besseren Zukunft zu träumen. «Ich freue mich auf mein Leben nach dem Krieg und bin zuversichtlich, dass schöne Dinge kommen werden.» Fatima dokumentierte die Angriffe im Gazastreifen und die Auswirkungen auf die Familien dort. Mutig wagte sie sich hinaus, nur mit ihrer Kamera und ihrem Notizbuch bewaffnet, um Fotos und Geschichten der Menschen zu sammeln, die dieselbe Hölle durchleben wie sie.

In den Wochen vor ihrem Tod erstellte sie ein Fototagebuch, das uns einen Einblick in ihre Welt gab und uns an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben liess. Ursprünglich hatten wir vor, dieses Fototagebuch anonym zu veröffentlichen, um ihre Identität zu schützen und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Mit der Erlaubnis ihrer überlebenden Familie nennen wir mit Stolz den Namen von Fatima Hassouna und würdigen sie für ihre Arbeit - für ihre Unverwüstlichkeit und ihren Mut, der dafür sorgt, dass die Menschen in Gaza nicht vergessen werden. 


Fatima wird nicht vergessen werden.
Eine Strasse in Trümmern

«Dies ist meine Stadt, und so sieht sie heute nach 18 Monaten brutalen Konflikts aus: sandige Strassen, zerstörte Häuser, nicht vorhandene Einrichtungen. Jeder Ort, den wir liebten, hat sich in eine grosse Leere verwandelt, und diese Stadt ist zu einer Geisterstadt geworden.

Dies ist die Al-Mukhabarat-Strasse im nördlichen Gazastreifen - früher war sie eine der belebtesten Strassen, denn sie führte zum schönen Meer, vorbei am Al-Mathaf-Hotel und anderen Orten, die die Menschen hier gerne besuchten. Aber heute kann ich die Spuren der Zerstörung sehen, nach den Brandgürteln, die diese einst belebte Strasse verwüstet haben - sie hat sich jetzt in etwas anderes verwandelt - ich habe eine Weile gebraucht, um sie überhaupt zu erkennen, als ich hier ankam. Jedes Wahrzeichen dieser Stadt hat sich verändert. Sie haben uns all die Dinge genommen, die wir geliebt haben!»

Ein Stadion voller Familien

«Dies ist das Yarmouk-Stadion. Früher war es ein Ort, der vom Jubel der Zuschauer:innen erfüllt war, die sich hier Fussballspiele ansahen. Auf diesen Tribünen erlebten wir die Aufregung, die Freude und die Gesänge der Fans, wenn ein Spiel stattfand. Jetzt wurde es in ein Lager für Vertriebene umgewandelt, für Familien, die gezwungen sind, aus ihren zerstörten Häusern zu fliehen, oder die Gefahr laufen, angegriffen zu werden. Auf diesen Tribünen sitzen Frauen, die ihr Zuhause verloren haben - einige haben ihre Ehemänner, Kinder oder andere Familienmitglieder verloren, jede mit ihrer eigenen Geschichte.

Diese Frauen sitzen auf den Pritschen, in denen sie nun buchstäblich leben. Auf diesen Ständen, die nicht breiter als ein Quadratmeter sind, müssen ganze Familien schlafen. Von Zeit zu Zeit sitzen sie auf diesem kleinen Platz und starren in die Ferne. Ich stelle mir vor, dass sie auf die gefühlt turmhohen Stapel ihrer Sorgen vor ihnen starren.

In den Zelten gibt es keine Privatsphäre, keine Sicherheit, keine Wärme und kein würdiges Leben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Frauen, die ich hier sehe, mit gebrechlichen Körpern, die an Unterernährung leiden und ihr Bestes tun, um ihre Familien zu ernähren und zu versorgen, an einem Ort wie diesem leben können, wo die Zelte bei jedem Regen zusammenbrechen. Wie können ganze Familien auf so engem Raum komfortabel leben? Wie können sie ihr Leben weiterführen? Wie haben sich die Jubelrufe und die Freude, die hier vor weniger als zwei Jahren zu hören waren, in Tränen und Seufzer der Erschöpfung verwandelt? Im Zelt herrscht nichts als Müdigkeit!»

Farbe im Staub, die Spielzeugbude

«Mein Gazastreifen ist einer der widersprüchlichsten Orte auf dieser Welt. Inmitten brutaler Zerstörung und Verwüstung stösst man auf diesen Stand mit buntem Kinderspielzeug, das in krassem Gegensatz zu den tristen Farben der Verwüstung und des Todes steht - ein mutiger Trotz gegen die Unterdrückung. Es gibt immer noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ich habe dieses Foto gemacht, weil es mir zeigt, dass, selbst wenn sie alle Kinder töten, eines Tages andere Kinder geboren werden, die dieses Spielzeug in den Händen halten und ihre Kindheit so leben, wie sie sein sollte.

Das tägliche Leben in dieser Stadt erstaunt mich immer wieder - die Unverwüstlichkeit der Menschen, das Leben auf den Strassen nur wenige Tage nach der Bombardierung. Menschen, die sich von der täglichen Todesgefahr nicht davon abhalten lassen, hinauszugehen und zu leben. 

Für mich ist das die Gleichung «das Rosa gegen das Grau.»

Mein gestohlener Zufluchtsort (1/2)

«Dieser Ort ist das «Rashad Al-Shawa Cultural Centre», eines der wichtigsten Kulturzentren in Gaza und einer der Orte, die sich am tiefsten in mein Gedächtnis eingegraben haben und ein Kernstück meiner persönlichen und kulturellen Identität sind.

Ich ging zu Rashad Al-Shawa, als ich fünfzehn Jahre alt war. Das grosse Porträt, das einen jedes Mal begrüsste, wenn man den Ort betrat, war sein (Rashads). Er sass ruhig da, und alles um ihn herum schien ebenfalls in Stille zu verharren. Er begrüsste mich jedes Mal, wenn ich die Bibliothek betrat. Die Diana Tamari Sabbagh Bibliothek, die Teil des Zentrums ist, war die erste richtige Bibliothek, die ich je gesehen habe, und sie hat mich in Ehrfurcht versetzt. Ich ging dorthin, um mich lebendig zu fühlen. Dieses Haus der Bücher war ein Ort, an dem ich diese Welt entdecken und mich mit der Essenz von Fatima verbinden konnte.

Auf diesen Fotos sehen Sie den grossen Veranstaltungssaal, in dem immer Poesieabende, Feiern und Theaterstücke stattfanden. Manchmal verwandelte er sich sogar in ein Kino, da es in Gaza keine Kinos gibt. Er erfüllte die Träume aller, die sich für Kunst interessierten.

Mein gestohlener Zufluchtsort (2/2)

«Als sie Rashad Al-Shawa bombardierten, bombardierten sie Teile meines Gedächtnisses und die Erinnerungen aller, die diesen heiligen Ort schätzten. Als ich den Ort nach dem Bombenanschlag zum ersten Mal betrat, war mir zum Weinen zumute, weil sie mir etwas weggenommen hatten, wozu sie kein Recht hatten. Sie haben mir einen echten und schönen Teil meiner Erinnerung gestohlen. Aber ich weiss, dass sie ihn mir nicht wirklich wegnehmen können, denn dieser Ort ist Teil meiner Identität - unerschütterlich, egal wie sich die Umstände ändern.»

Eine leidende Generation

«Es gibt nichts Traurigeres, als den Zustand der Kinder in dieser Stadt zu sehen. Gestern erzählte mir meine Freundin von ihrer Nichte Doaa. Sie sagte: «Sie hat mir von ihrer Zeit im Süden erzählt. Sie sagte: 'Stell dir vor, Tantchen, ich bin immer zur Wohltätigkeitsküche gegangen und habe mich so geschämt. Noch heute ärgert sie sich über sich selbst, weil sie sich dort anstellen muss. 

Viele Kinder tragen eine Last, die schwerer ist als ihr Alter. Zu einer Zeit, in der sie eigentlich in Schulen oder auf Spielplätzen sein sollten, leben sie stattdessen in ihren Schulen und stellen sich dem Krieg mit einem kleinen Teller in der Hand und barfuss. 

Ich bin nicht immer glücklich, wenn ich solche Fotos mache. Im Gegenteil, diese Szenen machen mich zutiefst traurig und fressen sich in mein Herz. Die Kleinen dieser Stadt können all diese Erschöpfung nicht ertragen. Mein einziger Trost ist die Hoffnung, dass sich diese Generation eines Tages gegen die Ungerechtigkeit wehren wird und die Schulen und Spielplätze wieder so werden, wie sie einmal waren.»

Die unvergessene Künstlerin, Mahasen

«Dies ist die talentierte Künstlerin und meine gute Freundin Mahasen Al-Khatib, die bei den Luftangriffen getötet wurde. Mahasen war ein Vorbild für mich und für viele andere. Sie liess sich durch den Krieg nicht von ihrer Arbeit abhalten, sie machte weiter. Sie sass auf dem Dachboden ihres Hauses, das hier nach einem Angriff zerstört wurde, und malte wunderschöne Bilder, die sie als ihre Stimme, die Stimme der Palästinenser:innen, an die Welt richtete. 

Sie liebte es nicht, im Rampenlicht zu stehen, aber sie wünschte sich, dass jeder von ihr hörte und sie durch ihre Kunst kennenlernte. Sie sagte oft: «Ich möchte, dass die ganze Welt über diese Zeichnungen von Mahasen spricht. Ich möchte, dass die ganze Welt sieht, was ich mache.» Mahasen arbeitete hart und strebte unermüdlich nach ihrem Traum, eine globale digitale Künstlerin zu werden. Sie bildete viele Schüler:innen aus, vor allem Mädchen, und gab ihre Fähigkeiten weiter. 

Der Ort, an dem dieses Foto aufgenommen wurde, existiert nicht mehr. Das Haus ist weg, der Dachboden ist weg, und Mahasen und ihre Träume sind weg. Aber ihr Wunsch ging in Erfüllung, ihre Kunst lebt weiter, und viele in der Welt wissen jetzt, dass Mahasen getötet wurde, als sie ihren Traum verfolgte.»

Das lange Warten (am Strand von Al-Sudaniya)

«Dieses Foto stammt aus dem Strandgebiet von Al-Sudaniya, einem Ort, an dem früher Flugzeuge kamen, um Hilfsgüter abzuwerfen. Diese beiden Männer sassen auf einer grossen Sanddüne und warteten auf ein Flugzeug. Sie haben lange gewartet, seit sechs Uhr morgens, zusammen mit vielen anderen, die ebenfalls warteten.

Ich kann nicht erraten, was für ein Gespräch zwischen den beiden stattfand, aber Schweigen allein hätte gereicht! Vielleicht sprach der Schmerz über das, was sie sahen, lauter als tausend Worte. Vielleicht hatte einer von ihnen sein Zuhause oder jemanden, der ihm lieb war, verloren. Vielleicht rätselten sie, wann das Hilfsflugzeug eintreffen würde, und zählten die Stunden. 

Sie mögen alle Möglichkeiten in Betracht gezogen haben, aber an diesem Tag kam das Flugzeug nicht, und alle kehrten mit leeren Händen nach Hause zurück.»

Der lange Weg zurück

«Auf dem Rückweg von dem langen Tag, an dem wir auf die Hilfsgüter aus der Luft warteten, die nicht kamen, kehrten alle enttäuscht zurück, da sie nichts erhalten hatten und mit leeren Händen nach Hause gingen...Viele sammelten auf dem Rückweg Brennholz, das die einzige Alternative zum Kochgas darstellt, und trugen es anstelle von Säcken mit Hilfsgütern und Lebensmitteln in ihre Häuser zurück. Aber was soll man tun, wenn man zwar Feuer, aber kein Essen hat?»

Eine Geschichte des weiblichen Mutes

«Für ganze Generationen waren Frauen die wichtigsten Ernährerinnen, die Legenden des Kampfes und die Samen, aus denen ein Baum der Stärke und Widerstandsfähigkeit gewachsen ist. Seit jeher haben Frauen ihre Kinder erzogen und ihnen den festen Glauben und die Idee vermittelt, dass die Befreiung mit kleinen Taten beginnt - vielleicht mit einer Keffiyeh.

In diesem Sinne habe ich die Keffiyeh immer als das Symbol Palästinas, der Frau, gesehen, und wir sind ihre Kinder, geleitet von der Überzeugung, dass wir an eine bessere Zukunft für uns selbst glauben müssen, dass Widerstand ein ständiges und lohnendes Unterfangen ist.»

Das Meer der Kraft

«Je mehr ich versuche, unsere Beziehung als Gazanerin zum Meer zu erklären, desto weniger Bedeutung scheinen meine Worte zu haben. Das Meer war unser einziger Zufluchtsort in unserem Leben. Und obwohl sie versucht haben, uns vom Meer fernzuhalten, konnten sie es nicht. Nichts kann sich zwischen uns und das Meer stellen. Jeder hier geht ans Meer, wann immer er Luft holen muss. Allein der Anblick dieser unendlichen Weite gibt einem das Gefühl, dass man wieder atmen kann, dass man sein Leben weiterführen kann, zumindest mit ein wenig mehr Ruhe, als man gekommen ist.

Das Meer war und ist immer noch die gemeinsame Sprache der Liebe zwischen uns und dieser Stadt. Und je mehr sie versuchten, es zu entwurzeln und uns zu stehlen, desto fester klammerte es sich an uns - als ob wir eins geworden wären!»

Rückkehr in die Heimat

«Es gibt nichts Schöneres, als nach Hause zurückzukehren, auch wenn die Reise beschwerlich ist, das Erreichen des Ziels schwierig ist und man lange darauf warten muss - es lohnt sich immer. Der Moment, in dem du die Luft deiner Heimat und deines Zuhauses einatmest, ist ein Moment, der kostbarer ist als jeder andere.

Diese ehrfurchtgebietende Szene wird mir bis zu meinem Tod in Erinnerung bleiben. Dieses Bild wird für eine ganze Generation nach mir ein ewiges Andenken bleiben, das es ihr ermöglicht, die Bedeutung der Heimkehr, die Bedeutung von 'Zuhause' und die Süsse der Ankunft nach einer langen, beschwerlichen Wartezeit einzuatmen.»

Hinweis
  • Am Tag vor ihrem Tod hat Fatima der Veröffentlichung ihres Fototagebuchs zugestimmt. Nach ihrem Tod haben wir von ihrer Familie die Erlaubnis erhalten, ihre Arbeiten unter voller Nennung ihrer Person zu veröffentlichen.
  • Wir haben auch Geschichten, Animationen und Fotos, die Fatima in den letzten 18 Monaten mit Plan International geteilt hat.
  • Wir können auch Ehrungen von Fatima durch ihren Ehemann und ihre Freunde auf dem She Leads Project teilen